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Zur Naturgeschichte der "Landpartien"

Von Rich. Schmidt-Cabanis, Illustrierte Frauen-Zeitung 1877

 

Eine Landpartie ist - um es kurz zusammenzufassen - das unter den erschwerendsten Umständen zur That gewordene Bestreben des Stadtbewohners, seiner Sehnsucht nach einer momentanen Luftveränderung Befriedigung zu verschaffen.

Nichts ist natürlicher, als dieser körperliche und seelische Drang eines, lange und trübe Wintermonde hindurch in dem steinernen Sarkophag großstädtischer Wohnstätten Begrabenen - nach Auferstehung, und kaum kann etwas unnatürlicher sein, als die Annahme: das bequemste Mittel, den Stein von der Gruft unseres inneren Menschen abzuwälzen, gewähre die Landpartie.

"Bequemlichkeit" und "Landpartie" sind überhaupt ein paar der heterogensten Begriffe; sie schließen sich in den meisten Fällen gegenseitig vollständig aus.

Wir sind gewohnt, unsere Nachtruhe bis gegen die siebente Morgenstunde hin auszudehnen; die Landpartie zwingt uns, um fünf Uhr aufzustehen, oder vielleicht - wenn eine sogenannte Frühtour droht - gar schon mit dem munteren Tagverkünder und Regenpropheten gleichzeitig uns den mildumfangenden Armen Morpheus´zu entreißen. Ein kräftiger, balsamisch duftender Morgen-Mocca, in Ruhe genossen, gehört zu unserer liebsten Gewohnheiten, die wir sogar unserem besten Freunde, also etwa uns selbst - unter keinen Umständen zum Opfer bringen würden: die Landpartie ist nicht unser Freund, und wir verzichten,  freilich unter mehr oder weniger lauten Protesten - ihretwegen auf diesen lieblichen Frühgenuß und die damit unzertrennlich verbundene Revue der Tageblätter! Es wird uns allerdings eine Art von Kaffee-Surrogat durch die Hand der noch ungemein verschlafen aussehenden Donna "für Alles" serviert; aber wir verzichten gern auf dieses düsterfarbige Gebräu, da das durch die halbgeöffnete Thür des Nebenzimmers zu unserem Ohr gedrungene Wort "Aufwärmen" ein unbezwingliches Mißtrauen in unserer Seele geweckt hat.

Wenn wir auch des berühmten kaiserlichen Generalissimus Wallenstein Ausspruch: "Es gibt keinen Zufall!" in dieser Schroffheit keineswegs unterschreiben wollen, so müssen wir doch andererseits offen zugestehen, daß uns die eigenthümliche Wahl der bei Landpartien fast allgemein üblichen Waffenbeförderungsmittel entschieden als "Bestimmung" erscheint. Zur Todesstrafe verurtheilte Sünder wurden in alter Zeit auf einer Kuhhaut zur Richtstätte geschleift; der Landpartie-Delinquent, dem man im schlimmsten Falle doch nur hochgradigen Leichtsinn zum Vorwurfe machen kann, tritt die Fahrt nach dem Ziele seiner Wünsche auf einem vierräderigen Karren an, dessen Construction mit der jener obenberegten primitiven "Fahrgelegenheiten" eine gewisse Familien-Ähnlichkeit nicht verleugnen kann.

Während man Wagen im Allgemeinen auf Federn zu basiren pflegt, verschmäht der Landpartie-Wagen (der in der Hauptstadt des deutschen Reiches den Zunamen "Kremser" führt, in Schlesien und Böhmen "Handerer" heißt und an anderen Orten unseres gesegneten Vaterlandes mit "Stellwagen" bezeichnet wird) diesen Luxus meistens gänzlich; ins spartanischer Einfachheit - eine Arche Noah des Festlandes - präsentirt sich der biderbe, wuchtige Kutschkasten, in dem bis zu vierundzwanzig Personen Raum finden, die nicht gerechnet, welche keinen Platz  mehr finden und noch darin "untergebracht" werden. Der "Stellwagen" pflegt mit einem Verdeck von Wachstaffet und an allen Seiten mit eben solchen Rouleaux versehen zu sein, welche letzeren die Eigenthümlichkeit besitzen, wenn sie emporgezogen sind, dem Staub und der Sonne ungehindert Zutritt in das Innere des Wagens zu verstatten und, herabgelassen, das Eindringen des Regens nicht unerheblich zu befördern und namentlich zu concentrieren. Eine fernere interessante Eigenschaft der Landpartie-Wagen besteht darin, daß sie niemals einen Kutscherbock besitzen, oder vielmehr, daß dieser stets von einigen überzähligen Teilnehmern in Anspruch genommen und der Roßlenker in Folge dessen auf einen ganz unmöglichen Platz, zwischen den Pferdeschweifen oder auf dem Verdeck oder auf einer der Wagenlaternen - gedrängt wird, auf dem er sich nur durch die geschicktesten akrobatischen Manipulationen im Gleichgewichte zu erhalten vermag.

Pedantische Forscher auf dem culturhistorischen Gebiete der Landpartien haben diese letzeren ihrem Wesen nach in verschieden Unter-Abtheilungen geschieden,  - in Waldpartien, Bergpartien etc.; wir halten eine derartige Classification für überflüssig, da die Praxis lehrt, daß - mit wenigen Ausnahmen - die Landpartien schließlich alle doch nur in   e i n e   Kategorie gehören, nämlich die der Wasser-Partien!

 

"Alterchen!" flüstert die Frau Ober-Steuer-Controleurin Niesemeischel ihrem Gatten zu, welcher soeben beschäftigt ist, einen Kassenbericht zum siebenten Male von oben nach unten zu addiren, um einen Rechenfehler von drei Reichspfenningen auf die Spur zu kommen, "Alterchen! Kanzeilraths schicken eben herüber wegen der Landpartie am Sonntag ...."

"Fünf und sieben sind - Gott behüte! das fehlte mir gerade noch! - und Zwölf, und neun dazu - bei den Zeiten Landpartien! - sind einundzwanzig..."

"O, Papachen," - bei diesen Worten legen sich zwei zarte Arme um den Hals des Zahlen-Märtyrers, die seiner ältesten Sprößlingin Kathinka - "o, Papachen, diesmal mußt Du Wort halten! Wir haben schon den Architekten-Ball wegen der "schlechten Zeiten" versäumt, und als Du aus der Ressource austratest, versprachst Du uns, daß, wenn die Verhältnisse besser würden..."

"... Vierundachtzig,  ... - sie sind aber nicht besser geworden! - und vier sind, - im Gegenteil, - sind neunundachtzig ..."

"Das sagst Du immer, wenn wir einmal ein Vergnügen haben möchten," äußert sich sich hier, schon mit einem leichten Anklang in Moll, die zweite obersteuercontroleurichte Tochter Eveline.

"Nein, - achtundachtzig, - mein Heiland, es ist zum Hinwerden! Achtundachtzig und fünfundzwanzig, -- macht, was Ihr wollt! - macht - meinetwegen, - einhundertdreizehn! - wenn ich nur nicht dabei zu sein brauche!"

 

Aber ganz unbesorgt, verehrte Leserin: er ist dabei, der gute Ober-Steuer-Controleur Niesemeischel; hätte doch selbst ein Tyrann in Folio dem vereinten Andringen dreier so liebenswürdiger Bittstellerinnen auf die Dauer nicht widerstehen können! Ja, er ist sogar, - wie denn Männer und - andere Leute nicht selten von einem Extrem in´s andere geraten, - ist sogar der Erste auf dem Platze und stapft, den Chronometer in der Rechten, den Stock in er Linken, auf dem Vorplatze  umher, bald vor der Zimmerthür seiner Töchter ein überaus deutliches: "Hm! hm! schon zwanzig Minuten darüber!" verlautbarend, bald seine bessere Hälfte durch energisches Klopfen in dem ohnehin ziemlich peinlichen Geschäftes des Handschuhknöpfens unterbrechend. Die Frau Ober-Steuer-Controleurin öffnet hierauf die Thür ein wenig, deutet pantomimisch an, daß bis zur vollständigen Reisebereitschaft ihrerseits "nur noch drei Secunden" vergehen würden und schließt das Toiletten-Sanctuarium wieder.

 

Nachdem sich diese Manipulation höchstens zwei bis mehrere Male wiederholt hat, - unter kleinen Abweichungen betreffs des gesprochenen Textes, wie
z. B.: "Ich kann mich nicht zerreißen!" oder: "Dein Hetzen verdirbt einem das ganze Vergnügen!" etc. - ist man so weit fertig, um zunächst einen vergessenen Sonnenschirm, zwei dito Taschentücher und einen Korb mit Cerealien nachträglich herbeischaffen zu können und sodann vor der Hausthür noch etwa zwanzig Minuten auf die Ankunft der kanzeliräthlichen Familie zu harren, die durch eine endlose Reihe von "gelösten Schuhbändern", "in Verluste geratenen Stecknadeln" und "sonstigen "Sichherausstellens" am pünktlichen Erscheinen verhindert wurde.

Übrigens wollen wir hier parenthetisch bemerken, daß die Zeit bis zum Erscheinen der Leidensgenossen verhältnismäßig am schnellsten noch Fräulein Eveline Niesemeischel und ihrem braven Papa vergeht. Die junge Dame hat ihre volle Aufmerksamkeit den Vorgängen zugewendet, welche von dem schräg gegenüberliegenden Hause des Herrn Regierungs-Assessors Schmachthuber sich vollziehen, und die, - es passieren ja bisweilen so wunderliche Dinge auf Erden! - ebenfalls ziemlich zweifellos mit einer bevorstehenden Landpartie engeren Zusammenhang zu haben scheinen: dem Ober-Steuer-Controleur aber hilft über die Pein des Wartens die wehmütige Betrachtung eines wohlgefüllten Flaschenkorbes hinweg, den der Bediente des Regierungs-Assessors soeben im Wagen unterbringt, - leider nur nicht in dem des Ober-Steuer-Controleurs. Denn Herr Niesemeischel hegt für wohlgefüllte Flaschenkörbe die zärtlichsten Gefühle, und einzig und allein Umstände der schnödesten materiellen Natur haben bisher das Verhältnis zwischen jenem und diesen zu keinem intimeren werden lassen!

Endlich kommen "Kanzleiraths" mit dem Kremser dahergerasselt, der auf den ersten Anblick allerhöchstens noch Platz für eine Dame zu bieten scheint, in dem aber nach Verlauf weniger Minuten und vieler Seufzer die gesamte Niesemeischelie denn untergebracht wird.

Und nun hinaus in den frischen, erquickenden Morgenstaub der Landstraße; - es hat seit vierzehn Tagen nicht geregnet, und die Sonne entwickelt jetzt um sieben Uhr früh bereits ein Feuer, das jedem süd-australischen Mittag zur Ehre gereichen würde.

Eine besonderen Annehmlichkeit gewährt den Teilnehmern an Landpartien das Passieren größerer oder kleinerer Dorfschaften. Abgesehen von der durch das Vorübertreiben des Herdenviehs erzielten Staubvermehrung, haben die Stadtleute den Genuß, der jüngsten ländlichen Generation von deren respectiven Hüterinnen vorgewiesen zu werden, wie man etwa Naturseltenheiten in umherziehenden Curiositäten-Cabineten gezeigt bekommt, während die etwas fortgeschrittenere Dorfjugend ihre Abneigung gegen das übertünchte geleckte Wesen hauptstädtischer Civilisation durch das frei Hervorstrecken jenes Geschmacksorgans an den Tag zu legen pflegt, welches man sonst nur in Fällen gastritischer Verstimmung dem Arzte unter vier Augen zur Prüfung darbietet.

Auch unsere Freunde haben, bevor sie ihr Ziel erreichen, ein derartiges gesellschaftliches Gassenlaufen mehrfach zu überstehen; endlich aber winkt ihnen Erlösung: das Waldparadies erschließt sich, und die Harmonie der Seligen (bestehend aus einem mangelhaften Paganini und einer, selbst die schwierigsten Tanz-Melodien frisch vom Blatt buchstabirenden Harfenistin) tönen ihnen erlockend entgegen.

Aber auch reelere Genüsse winken bereits! Wie es der Regierungs-Assessor Schmachthuber und seine beiden Collegen vom Appelationsgericht ermöglich haben, fast eine halbe Stunde vor dem Eintreffen der Niesemeischelschen Familie an Ort und Stelle zu sein, - wir wissen es nicht. Jedenfalls sendet, als die letztgenannten Herrschaften nebst Kanzleiraths dem Stellwagen entquellen, bereits unterm Laubdach eines prächtigen Eichensstammes - diesmal ohne Raupen - eine Bowle ihren Maienduft zu den Zweigen empor.

Der Regierungs-Assessor grüßt; die Höflichkeit bestiehlt, zu danken; ein Gesprächs-Anknüpfungspunkt ist bei einem Thermometerstande von zweiundzwanzig Grad im Schatten mit einer Leichtigkeit gefunden, und kaum ist eine Viertelstunde verflossen, als bereits Alt und Jung auf dem besten Fuße mit einander stehen; - d. h. "Alt" liegt um den labenden Maiwein her gruppiert, und "Jung" hüpft nach den Klängen von Geige und Harfe; - von dem  
S t e h e n   auf gutem Fuße kann also eigentlich nicht die Rede sein!

Leider jedoch ist "mit des Geschickes Mächten", wie der Dichter sehr wahr singt, kein Bund zu knüpfen; von der Herstellung einer dauerhaften Verbindung ist leider nicht die Rede.

Um unseren verehrten Leserinnen durch die Mittheilung aller trüben Einzelheiten nicht allzusehr an´s Herz zu greifen, begnügen wir uns mit der Beleuchtung der Situation in der neunten Abendstunde, in der die Rückfahrt stattfindet: Finsterniß; der Regen gießt in Strömen, - ohne Rücksicht auf die leichte Chauffure der Damen im Allgemeinen und auf den neuen Strohhut der Frau Kanzleiräthin im Speciellen. Fräulein Kathinka Niesemeischel und Fräulein Bertha Purzel, des Kanzleiraths einziges Töchterlein, haben sich in Folge eines kleinen Disputes über irgend etwas einstweilen ewige Feindschaft geschworen; der Kanzleirath Purzel sucht seinen heulenden Stammhalter, der sich durch den übermäßige Genuß von Obstkuchen eine Indegestion zu gezogen hat, zu beruhigen, und Fräulein Eveline sitzt in stummem Sinnen in einer Wagen-Ecke, und die leisen Seufzer, welche sich bisweilen über ihre küssenswerthen Lippen stehlen, scheinen keineswegs auf einen rosigen Gemüthszustand hinzudeuten; - freilich ,es gibt auch Seufzer der Seligkeit! - Verhältnismäßig am heitersten ist noch die Stimmung Papa Niesemeischels´s, dessen Beziehungen zu der Maibowle im Laufe des Tages in der That rührend freundschaftliche geworden sind.

 

Aber auch dieser würde Greis wird zum Schluß durch einen fatalen Umstand seiner stillen Freudigkeit entrissen; das Brechen der Achse nötigt sämmtlichen Insassen des Wagens, - glücklicher Weise erst kurz vor dem ersehnten Ziele, - diesen zu verlassen und den Heimweg zu Fuß zu vollenden, eine Aufgabe, welche dem Ober-Steuer-Controleur nur unter energischter Mithülfe der theuren Gattin und auch dann nur äußerst schwierig gelingt.

Fassen wir also, meine schönen und verehrten Leserinnen, die Resultate der soeben wahrheitsgemäß skizzierten Waldpartie noch einmal kurz zusammen, so erhalten wir das traurige Ergebnis mehrerer Paar kalter Füße, eines verloren gegangenen Regenschirmes, dreier total verdorbener Damenroben, eines krankgegessenen Jungen -

 

Soeben leuchtet mir aus dem  Moniteur für die reichshauptstädtischen Familien-Nachrichten folgende Anzeige entgegen:

"Die Verlobung ihrer jüngsten Tochter Eveline mit Herrn Regierungs-Assessor Balduin Schmachthuber beehren sich hierdurch ergebens anzuzeigen

Balthasar Niesenmeischel,
Kais. Ober-Steuer-Controleur
Friederike Niesemeischel,
geb. Rübchen

Ich nehme hierdurch alle meine, gegen Landpartien im Allgemeinen und gegen die Niesemeischel-Purzelsche im Speciellen geschleuderten Invectiven feierlichst zurück! Es leben die Landpartien"

 


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